Ein Beitrag Von Prof. Klaus-Jürgen Schmidt, IPL – Institut für Produktions- und Logistiksysteme und AKJ Automotive

Die Ineffizienz in der Lieferketten zwingt zum Umdenken.

Die Bemühungen für eine durchgreifende Digitalisierung der Wertschöpfungsketten sind gut erkennbar. Dennoch bleiben die Ergebnisse bisher weit hinter den hohen Erwartungen zurück. Der notwendige und umfassende Informationsaustausch in der automobilen Supply Chain ist vor allem eine organisatorische und weniger eine technische Herausforderung aller Wertschöpfungspartner.

Wo liegen die aktuellen Herausforderungen?

  • Transparenz über die gesamte Supply Chain für alle Wertschöpfungspartner immer noch große Herausforderung, insbesondere die Einbindung mittlerer und kleinerer Zulieferer
  • Fehlendes Vertrauen beim Teilen von Daten und Informationen
  • Zu hohe Hürden beim Onboarding von kleineren Unternehmen mit wenig Ressourcen
  • Informationen zu Bestellungen, Rechnungen und Materialbewegungen sind vergleichsweise gut abgebildet, Qualitätsinformationen, Kapazitätsinformationen u.a.m. werden noch zu wenig transparent dargestellt
  • Technische Bandbreite häufig gut – aber „thematische Bandbreite“ hat noch Potenzial
  • Neue Themen (Lieferkettengesetz und geplante EU-Richtlinie zu Lieferketten, CO2-Fußabdruck u.ä.) erfordern zwingend eine gemeinsame Dokumentation aller Partner der Abläufe in den geplanten Prozessen
  • Bisherige Initiativen sind häufig über Pilotprojekte und unternehmensspezifische Lösungen nicht hinausgekommen

Welche Anforderungen müssen jetzt erfüllt werden?

Akzeptiert werden muss auch, dass neue und verschärfte Anforderungen der Gesetzgeber an den Informationsaustausch in der Wertschöpfungskette formuliert wurden und jetzt oder bald in Kraft treten.

  • Lieferkettengesetz (Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz) als Bundesgesetz ab 2023
  • EU-Lieferketten-Richtlinie (EU-LkRL-E) in Ausarbeitung
  • Responsible Supply Chain Initiative (RSCI) des VDA (Verband der Automobilindustrie)
  • Austausch von Qualitätsdaten (VDA) – QDX – Quality Data Exchange
  • DIN EN ISO 14067 Treibhausgase – Carbon Footprint von Produkten – Anforderungen an und Leitlinien für Quantifizierung
  • Öko- oder CO₂-Bilanz beruht stets auf international anerkannten Standards (ISO 14040/44, ISO 14067, PAS 2050, GHG Product Life Cycle Standard)

Hieraus ergeben sich dann neue Lösungsvorschläge und Initiativen

Langfristige Planungsinformationen müssen mit deren Anpassungen genauso abbildbar sein wie kurzfristige Änderungen als Reaktion auf Störungen. Nur im Zusammenspiel der hier relevanten
kurz-, mittel- und langfristigen Anpassungen lassen sich planerische und operative Veränderungen ausgleichen.

Plattformen zum Datenaustausch, die aktuell ihren Schwerpunkt in der Automobil- und Zulieferindustrie haben, müssen branchenübergreifend geöffnet werden. Dies ist umso wichtiger, da viele Zulieferer der Automobilindustrie auch in anderen Branchen aktiv sind. Hieraus ergeben sich insbesondere für die Fertigungsindustrie Synergien, die zu einer höheren Versorgungssicherheit für alle Partner der Wertschöpfungsketten führen.

In dem Maße, wie die Anforderungen an die Lieferketten steigen (z.B. Nachhaltigkeit, Nachweisbarkeit, etc.), muss auch die thematische Bandbreite des Informationsaustausches zwischen den Partnern der Lieferkette erweitert werden:

  • Lieferdaten
  • Qualitätsdaten
  • Carbon Footprint Operations und Product Carbon Footprint
  • ESG-Kriterien-Erfüllung und Dokumentation (Environment, Social, Governance)
  • Marktprognosen
  • Individuelle Einschätzungen der Partner (insbesondere Prognosen z.B. auf lokalen Märkten)

Catena-X als ambitionierter Lösungsvorschlag auf der technischen Plattform von GAIA-X und nach den Standards der Industrial Dataspaces ist ein vielversprechender Ansatz mit einem nachhaltigen Geschäftsmodell und einer starken Verankerung in den beteiligten Unternehmen. Hierzu gehören dann Regelungen über eine sicherere Datenhaltung bei allen eingebundenen Partnern, eine Integration der Daten über standardisierte Schnittstellen, gemeinsam vereinbarten eindeutige Rollen und Rechte sowie eine konsequent zu Ende gedachte Datensouveränität. Jeder Partner hat die Souveränität über seine Daten, entscheidet über den Ort der Datenhaltung und die Freigabe für Partner (Kunden / Lieferanten)

Ein thematisch breitbandiger Informationsaustausch hat weitere Vorteile

Beherrschen von Kurzfriststörungen – Kurzfristige Störungen in der Lieferkette müssen gelöst werden – nicht alles lässt sich planen. Den Disponenten hat man im Zuge der Digitalisierung mehr und mehr „das Telefon weggenommen“ bzw. man lässt Algorithmen automatisch disponieren.

Gleichzeitig wurde aber kein adäquater Ersatz für Echtzeitkommunikation der verantwortlichen Personen geschaffen. Echtzeit-Messenger-Funktionen in den Supply-Chain-Systemen sind nicht die Regel. Schnelles Eingreifen und Umsteuern in Konfliktfällen sind mit einem erheblichen Zusatzaufwand verbunden und umständlich in der Handhabung.

Semantik – Es fehlt oft an einem integrierten und gemeinsam verabschiedeten Definitions-Handbuch, wie die Daten zu verstehen und zu interpretieren sind. Dadurch sind Missverständnisse vorprogrammiert und der Abstimmungsaufwand ist unnötig erhöht.

Belastbarkeit – hiermit wird die Validität und mögliche Ergänzung/Interpretation der ausgetauschten Informationen angesprochen. Informationen, die auf Vermutungen und Bauchgefühl einzelner Akteure beruhen, könnten die Partner der Kette mit wertvollen Einschätzungen versorgen. Diese Informationen werden aber zurückgehalten, weil man sich nicht darauf festlegen lassen will. Sinnvoll wäre eine Möglichkeit, die Validität der Informationen/Aussagen zu qualifizieren.

Integration des After Markets – Der After Market ist in den Supply-Chain-Systemen aktuell immer noch unterrepräsentiert. Dabei gibt es in Engpass-Situationen sinnvolle gemeinsame Aktionen mit der Serie im Sinne der Versorgungssicherheit (Umwidmung von Ersatzteilen zu Serienteilen).

Mehr Integration des Recyclings – Hier ist insbesondere die Integration im Sinne einer Circular Economy angesprochen. Die Schließung des Lebenszyklus durch die Zerlegung der Altfahrzeuge und Verwendung der Einzelteile muss auch in den Informationssystemen der Supply Chain abgebildet werden. Die Supply Chain ist mehr als nur die Serienversorgung und Ablieferung der Fertigfahrzeuge.

Wie stark sich insgesamt die Hersteller und Zulieferer bereits jetzt auf die neue Situation in den Absatz- und Versorgungsmärkten eingestellt haben und in allen Supply-Chain-Prozessen Anpassungen vornehmen, wird auch am 26./27. Oktober 2022 in den Beiträgen des Herbstkongresses des AKJ Automotive „Automotive Prozesse und IT 2022“ deutlich. Vgl. www.automobilkongress.de und www.akjnet.de.