Deutschland hat eine starke industrielle Basis. Es verfügt über weltweit anerkannte Kompetenzen bei Anlagenbetreibern, im Maschinen- und Anlagenbau, in der Elektro- und Automatisierungsindustrie, der Mikroelektronik und bei eingebetteten Systemen, in der produktionsnahen IT bis hin zur kompletten Systemintegration. Kaum ein anderes Land der Welt hat dieses breite Spektrum von Know-how und Erfahrung. Über viele Jahre waren die Auftragsbücher voll und die Entwicklungs- und Produktionskapazitäten ausgelastet. Die Frage ist: wird das auch in der Zukunft so sein und: wie kann die deutsche Industrie ihre Wettbewerbsfähigkeit erhalten oder sogar noch verbessern? Welche Rolle spielt dabei die Digitalisierung?

Viele Firmen haben in den Jahren seit dem Beginn von „Industrie 4.0“ Schritte in die Digitalisierung gemacht, mehr oder weniger erfolgreich; viele proprietäre Lösungen blieben hinter den Erwartungen zurück. Entsprechend zurückhaltend sind die Unternehmen nun. Damit bleiben sie aber hinter den mit der Digitalisierung verbundenen Potenzialen zurück, z.B. für zusätzliche datenbasierte Dienstleistungen rund um Fabriken, Maschinen und Komponenten und verpassen möglicherweise wichtige Chancen.

Tatsächlich ist Digitalisierung für alle Branchen des produzierenden Gewerbes ein strategisches Muss. Egal ob Fabrikbetreiber, Maschinenbauer, Komponentenlieferant oder Automatisierungsanbieter: Digitale Zwillinge, Künstliche Intelligenz, industrielle Datenräume und Datenaustausch über Unternehmensgrenzen hinweg sind die Themen der Zukunft.

Das Fraunhofer IOSB entwickelt und liefert seit Jahrzehnten wegweisende Lösungen für die industrielle Automatisierung und Digitalisierung. Zwar haben sich die Schlagworte und Moden über die Jahre verändert; die Aufgabenstellungen sind jedoch ähnlich: heterogene Signale und Daten aus industriellen Prozessen sammeln, kommunizieren, verarbeiten und mit modernen Werkzeugen der Softwareentwicklung in komplexen IT-Komponenten und -Systemen aufbereiten, auswerten und interpretieren.

Die Digitalisierung geht weiter!

Vor Industrie 4.0 war die Welt noch ‚in Ordnung‘: Produktion und IT waren zwei voneinander getrennte Welten. Die Automatisierungs-Pyramide bildete den Common-Sense ab: die Feldebene mit den Fertigungs-, Montage und Materialflussprozessen, Sensoren, Aktoren, Steuerungen und ihre Echtzeitkommunikation waren weitgehend autark von überlagerten IT-Systemen, natürlich auch vom Internet. Auf der ERP- und der MES-Ebene gab es eigenständige Systeme mit abgegrenzten Funktionalitäten. Mit dem Aufkommen Cyber-physischer Systeme, dem Internet-of-Things, der durchgängigen Vernetzung „vom Sensor in die Cloud“ und kollaborativen Ansätzen beim Datenaustausch haben sich Architektur, das Zusammenspiel und die Verantwortlichkeiten von IT und OT komplett verändert: IT durchdringt Feldgeräte und Maschinen immer stärker. Der Zugriff auf Daten von Feldgeräten und Maschinen innerhalb von Fabriken ist inzwischen Standard, und zwar über alle Ebenen der ehemaligen Automatisierungspyramide. Aus dem Ebenenmodell ist ein Netzwerk geworden, mit Geräten, die wie selbstverständlich mit dem Internet verbunden sind. Viele Unternehmen nutzen Daten aus Maschinen, Anlagen und verbessern so stetig ihre Kennzahlen.

Der nächste Schritt ist, Daten über den kompletten Lebenszyklus von Produkten und Anlagen zu sammeln und auszuwerten, und das im Austausch mit anderen Unternehmen: Zulieferern, Kunden, Ausrüstern. So lassen sich weitere Potenziale heben, beispielsweise

  • im Engineering, um Produktionsanlagen und ihre Digitalen Zwillinge zu testen und schnell in Betrieb zu nehmen,
  • entlang der Lieferkette, um z.B. lückenlose Rückverfolgbarkeit zu ermöglichen oder
  • um Produktionsprozesse zu verbessern, z.B. indem Prozessparameter aufgrund verschiedener Gegebenheiten oder Messwerte schnell angepasst werden.

Asset Management-Systeme verwalten Digitale Zwillinge von Produktionsanlagen über ihren kompletten Lebenszyklus; deren Fähigkeiten, Kapazitäten, Verknüpfungen, Kommunikation, etc. Dies nutzen Business-Applikationen, wie MES-Funktionalitäten, um darauf aufbauend die Reihenfolge von Aufträgen oder Arbeitsgängen zu planen, Werkzeug- und Personaleinsatz zu koordinieren und Zulieferteile in der richtigen Menge punktgenau anzuliefern. Und das alles echtzeitnah, so dass Meister und Produktionsleiter direkt auf eventuelle Änderungen oder Engpässe reagieren können. Künstliche Intelligenz (KI) ermöglicht darüber hinaus Prädiktionen, so dass Fertigung und Montage vom Reagieren zum Agieren kommen.

Digitale Zwillinge: Schlüssel zum Datenaustausch

Ein Digitaler Zwilling ist das Abbild des physischen ‘Assets‘ in der realen Fabrik und erlaubt dessen Simulation, Steuerung und Verbesserung. Als Digitale Zwillinge werden Produkte sowie Maschinen und ihre Komponenten mit Hilfe Digitaler Werkzeuge modelliert und zwar einschließlich sämtlicher Geometrie-, Kinematik- und Logikdaten. Arbeitsgruppen der Plattform Industrie 4.0 diskutieren Digitale Zwillinge in Verbindung mit der sog. Verwaltungsschale / Asset Administration Shell (AAS). Digitale Zwillinge werden in den kommenden Jahren weiter ausgestaltet. Klar ist, dass es sich dabei nicht um ein monolithisches Datenmodell handelt, sondern um unterschiedliche Aspekte digitaler Repräsentationen, Funktionalitäten, Modelle und Schnittstellen, sog. Teilmodelle. Tatsächlich sind in der Industrie an vielen Stellen solche Teilmodelle Digitaler Zwillinge im Aufbau, um z.B. das Verhalten von Maschinen und Komponenten aufzunehmen und abzubilden. Aus Sicht der industriellen Produktion und seines Engineerings umfassen Digitale Zwillinge beispielsweise folgende Aspekte:

  • Modellbasierte Selbstbeschreibungen mit dem Ziel von Autoidentifikation und Autokonfiguration, z.B. damit sich Maschinen und ihre Komponenten mit Hilfe von mitgelieferten Treiberinformationen am MES-System oder im industriellen IoT-System mit ihren Fähigkeiten und Diensten anmelden („PLUGandWORK“).
  • Beschreibung von Fähigkeiten (‚Skills‘) von Produktionsanlagen, bestimmte Fertigungsverfahren wie Drehen, Bohren, Fräsen oder MAG-Schweißen ausführen zu können oder Materialflussfunktionen wie Heben oder Stetigfördern durchzuführen. Außerdem umfassen die Fähigkeiten Attribute und ihre zulässigen Wertebereiche sowie ggfs. Teile der Logik. Mit diesen Beschreibungen und entsprechenden Ablaufbeschreibungen können Produktionsmittel schnell zu Anlagen für neue Fertigungsaufgaben zusammengebaut, konfiguriert und in Betrieb genommen werden.
  • Datenbasierte Modelle des Normalverhaltens einer Maschine, einer Linie oder einer kompletten Produktion, basierend auf Laufzeitdaten, die aus dem realen Betrieb, z.B. auf Basis einer Maschinendatenerfassung mit Hilfe maschinellen Lernens, gewonnen werden. So können Digitale Zwillinge dazu genutzt werden, Ausfälle von Maschinen oder Komponenten zu prognostizieren und – in der Zukunft – Verbesserungsvorschläge datenbasiert automatisiert zu generieren. Hier wird deutlich, dass MES-Funktionen zum Aufbau Digitaler Zwillinge unerlässlich sind. Sie erfassen und speichern Produkt-, Prozess- und Ressourcendaten, die Maschinen und Anlagen liefern oder Messsysteme in Form von Qualitätsdaten.
  • Offline- und Online-Simulationen einschließlich spezieller Simulatoren, z.B. für Finite Elemente, Virtuelle Inbetriebnahme oder die Simulation physikalischer Prozesse. Im Idealfall interagieren verschiedene Simulationsmodelle miteinander. Der Begriff des Digitalen Zwillings ist in der Vergangenheit oft mit der Simulation gleichgesetzt worden; aus heutiger Sicht ist diese Definition jedoch zu eng.
  • Die Digitale Fabrik beschreibt ein „umfassendes Netzwerk von digitalen Modellen, Methoden und Werkzeugen (…)“ , „die durch ein durchgängiges Datenmanagement integriert werden“, z.B. für Produktions- und Materialflussanlagen, Gebäude und Technische Gebäudeausrüstung (VDI 4499, Blatt1). Der Begriff der Digitalen Fabrik ist seit langem bekannt und in einschlägigen Standards beschrieben, z.B. der Richtlinienreihe 4499 des VDI.
  • Zu vollständigen Digitalen Zwillingen gehören außerdem IT-Sicherheit, Zugriffsrechte, Zertifikatshandling, Versionsmanagement und Kompatibilitätstests verschiedener Versionen Digitaler Zwillinge.
  • Interoperabilität auf Basis offener Standards ist schließlich die Voraussetzung, Digitale Zwillinge zwischen Unternehmen auszutauschen, die Teil von Datenökosystemen sind. In Projekten wie Catena-X oder Factory-X wird dies eindrucksvoll und praxisnah erprobt und nachgewiesen.

Digitale Zwillinge sind für Industrie 4.0 und die weitere Digitalisierung der Fertigung essentiell. Ihr Inhalt entsteht in den verschiedenen Lebenszyklusphasen eines Produkts oder einer Fabrik, mit unterschiedlichen Werkzeugen auf diversen Plattformen. Aus den ersten Beispielen in der Praxis ist schon jetzt ersichtlich, dass Digitale Zwillinge sehr anwendungsspezifisch und für jedes Unternehmen maßgeschneidert zu definieren sind.

Aktuelle Beispiele für den Einsatz und den Nutzen Digitaler Zwillinge liefern Unternehmen der Automobilindustrie und deren Zulieferer, die schon immer sehr fortschrittlich waren, wenn es darum ging, Werkzeuge und Systeme der Digitalen Fabrik zu nutzen oder Teile und Fahrzeuge zu identifizieren und zu verfolgen. Konkrete Projekte sind Digitale Zwillinge von Produkten und Form komplett digitalisierter Produktlebenslaufakten oder von Produktionsanlagen; beispielsweise geht es bei den Anlagen darum, Qualitätsdaten mit Prozessparametern zu korrelieren, so dass bei n.i.O.-Teilen Prozessparameter nachgeregelt werden können. Hier kommen auch die Zulieferer ins Spiel, da die OEMs mehr Daten zu den Produkten und Prozessen fordern, um damit ihre eigenen Prozesse zu verbessern. Konkretes Beispiel sind Daten zu Coils, die im Presswerk zu Platinen und Tiefziehteilen verarbeitet werden. Je feingranularere Messwerte der Stahlhersteller mit dem Coil mitliefert, umso besser lassen sich Tiefziehparameter einstellen, um Risse oder andere n.i.O.-Merkmale zu verhindern oder sogar vorherzusehen.

Keine Angst vor Kooperation!

Zusätzlich zu den traditionellen hardwarenahen Kompetenzen müssen Fabrikbetreiber und deren Ausrüster also schnell umfassende Kompetenzen lernen und beherrschen, um neue Methoden und Werkzeuge wie Gaia-X, Plattformen und Datenökosysteme, Datensicherheit und -souveränität, etc. nutzbringend um- und einsetzen zu können. Dies alles wird nicht im Alleingang erfolgreich sein: Der tatsächlich existierende Wissensrückstand kann nur in Kooperation mit gleichgesinnten Partnern aufgeholt werden. Der sichere Austausch von Daten fördert Kooperation und Innovation innerhalb des Ökosystems und ermöglicht es so, neue Geschäftsmodelle wirtschaftlich umzusetzen, die bislang nicht einträglich waren. Basis eines solchen Datenökosystems ist der sichere, für authentifizierte Teilnehmer offene und transparente Zugang zu Daten für alle Ökosystemteilnehmer. Datenrauminitiativen wie Catena-X oder Factory-X verfolgen das klare Ziel, Fitness-Programme zur Digitalisierung des deutschen produzierenden Mittelstandes zu schaffen und damit den Standort Deutschland insgesamt zu stärken.

 

Autor: Dr. Olaf Sauer, Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung, Karlsruhe (v.i.S.d.P)