„Strategische Transformation ist das Gebot der Stunde.“ Dieses kraftvolle Statement von Roland Berger würde Prof. Klaus-J. Schmidt wohl ohne Zögern uneingeschränkt gegenzeichnen. Als Leiter des AKJ Automotive und des Instituts für Produktions- und Logistiksysteme liegt sein Forschungs- und Beratungsschwerpunkt auf allen Facetten des industriellen Transformationsprozesses entlang der gesamten automobilen Wertschöpfungskette. Im Interview mit Dr. Rudolf Müller erläutert er Fragen zur Bedeutung des Transformationsprozesses für Industrie und Gesellschaft. 

Die Transformation für mehr Klimaschutz stellt für unsere Wirtschaft sicherlich die größte Herausforderung der letzten Jahre dar, zumal sie derzeit durch externe Faktoren wie geopolitische Kräfteverschiebungen, ein gewachsenes Selbstbewusstsein des globalen Südens und erhebliche krisenhafte Veränderungen unserer Energieversorgung zusätzlich belastet wird.

Gleichzeitig verändern sich Märkte und damit auch ökonomische Strukturen. Beispielhaft sei hier nur der kometenhafte Aufstieg chinesischer Automobilhersteller, insbesondere im Bereich der E-Mobilität, auf dem europäischen und dem nordamerikanischen Markt erwähnt.

Welche Strukturen unserer Industrie werden sich im Zug der Transformation zu mehr Klimaschutz am stärksten verändern?

Prof. Dr. Klaus Schmidt:

Die von Ihnen angesprochene Transformation ist in der Tat eine der größten Herausforderrungen mit denen unsere Wirtschaft und hier insbesondere die Automobilindustrie konfrontiert ist. Diese Branche steht aufgrund ihres signifikanten Beitrags zu den globalen CO2-Emissionen und ihrer Rolle als Schlüsselindustrie in vielen Ländern besonders im Fokus. Dementsprechend intensiv werden die Veränderungen in diesem Industriesegment mit all den verbundenen Bereichen und Zuliefern auch sein.

Einen Veränderungsschwerpunkt sehe ich in den Antriebstechnologien und den sich daraus ergebenden Modifikationen im Produktportfolio, die sich aus der Umstellung von Verbrennungsmotoren auf Elektroantriebe ergeben. Dies erfordert nicht nur Veränderungen in der Produktentwicklung, sondern auch in den Produktionsprozessen, da Elektrofahrzeuge weniger Komponenten benötigen und sich Lieferketten für Batterien und Elektromotoren signifikant von denen für Verbrennungsmotoren unterscheiden.

Eng damit verbunden sind Veränderungen bei Lieferketten und der Rohstoffbeschaffung. Die Nachfrage nach für die Batteriezellenproduktion erforderlichen Rohstoffe wie Lithium, Kobalt, Nickel und anderen Metallen steigt, was zu einem Umdenken in der Beschaffungsstrategie und möglicherweise zur stärkeren Integration oder Sicherung von Rohstoffen kommt, zumal diese ungleichmäßig global verteilt sind.

Keineswegs ausschließen können wir die geografische Verschiebung von Produktionsstandorten. Insbesondere in der Batterieproduktion, in der wir mit unserer Industrie eher schwach vertreten sind, werden Länder und Regionen mit Zugang zu sauberer Energie, Rohstoffen und technologischem Know-how bevorzugte Standorte für neue Fabriken werden. Dies wird wiederum zu Konsequenzen im Bereich von Distribution und Logistik führen, da Netzwerke und Lieferketten unter dem Gesichtspunkt höherer Resilienz und Flexibilität gegenüber geopolitischen Spannungen oder Ressourcenknappheit angepasst werden müssen.

Die Wettbewerbslandschaft wird sich durch das Auftreten neuer Akteure, wie zum Beispiel die chinesischen Automobilproduzenten im Bereich von E-Fahrzeugen, deutlich verändern. Dazu kommt, dass die traditionellen Automobilhersteller ihre Geschäftsmodelle im Hinblick auf digitale Dienstleistungen, Konnektivität und nachhaltige Mobilitätslösungen anpassen müssen.  Auch klassische Organisationsfunktionen wie Vertrieb oder Händlerorganisationen geraten mehr und mehr unter Veränderungsdruck.

Laut Erhebungen der Weltbank hat der Wirtschaftssektor Industrie in Deutschland einen Anteil am BIP in Höhe von rund 27 Prozent. In Frankreich und im Großbritannien liegt dieser Wert bei nur rund 18 Prozent. Genau umgekehrt proportional ist das Verhältnis beim Wirtschaftssektor Dienstleistungen. Hier liegen Frankreich und Großbritannien bei rund 70 Prozent. Der Wert für Deutschland beträgt hingegen nur 63 Prozent.

In politischen Debatten ist immer wieder von einer Deindustrialisierung Deutschlands die Rede. Ist es denkbar, dass sich im Zug der Transformation der Produktionsanteil am BIP in Deutschland zugunsten des Bereichs Dienstleistungen verschiebt?

Prof. Dr. Klaus Schmidt:

Eine solche Verschiebung kann grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden, wobei vorab zu bemerken ist, dass eine reine Dienstleistungsstruktur nicht als das Erfolgsrezept schlechthin angesehen werden kann.

Faktoren wie die Transformation in eine grünere Wirtschaft, der Prozess der Digitalisierung oder die Neugestaltung industrieller Prozesse unter dem Aspekt von Industrie 4.0 und nicht zuletzt der Einzug von KI in industrielle Prozesse können eine solche Verschiebung begünstigen. Auch die wachsende Bedeutung von Wissen und Information als Wirtschaftsfaktoren begünstigt den Dienstleistungssektor.

Ein Wandel in den Konsumpräferenzen hin zu mehr Dienstleistungen in den Bereichen wie Gesundheit, Bildung, Freizeit und nachhaltige Mobilität könnte ebenfalls eine Verschiebung unterstützen.

Dies alles bedeutet jedoch nicht notwendigerweise eine Deindustrialisierung im negativen Sinne. Es könnte auch eine Entwicklung hin zu einem Wirtschaftsmodell sein, das sowohl einen hochmodernen industriellen Sektor als auch einen starken, innovativen Dienstleistungssektor umfasst.

Der Transformationsprozess ist in hohem Maß durch staatliche Vorgaben und Zielsetzungen – sei es auf Ebene der Nationalstaaten oder der EU- reglementiert. Beispielhaft sei hier nur das Verbot von Neuzulassungen für Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor bis 2035 durch die EU genannt. Schon Alois Schumpeter sah in einer wachsenden Bürokratisierung und einer verstärkten Rolle des Staates die größte Gefahr für den Prozess einer „schöpferischen Zerstörung“, der Voraussetzung für Innovationen, technischen Fortschritt und damit Wachstum darstellt. Ist dies nicht vergleichbar mit aktuellen staatlichen Interventionen, die Technologieoffenheit im Transformationsprozess mehr behindern als fördern?

Prof. Dr.Klaus Schmidt:

Schumpeter betonte auch die Rolle des Unternehmertums und der Innovation als treibende Kräfte von Wachstumsprozessen. Dahinter stand die Sorge, dass zu starke staatliche Interventionen durch die Bevorzugung oder den Ausschluss bestimmter Technologien zu einer Verlangsamung des Innovationstempos führen könnten. Insgesamt ist die Frage nach dem Gleichgewicht zwischen staatlicher Regulierung einerseits und der Förderung von Innovationen im Rahmen der Transformation anderseits tiefgreifend und komplex.

Ein wesentliches Argument für staatliche Interventionen ist die Tatsache, dass die einzelnen Unternehmen am Markt nicht in der Lage sind, strategische und langfristige Ziele für den Gesamtmarkt zu setzen oder auch in der Vergangenheit begründetes Marktversagen für die Zukunft zu korrigieren, da sie in der Regel kurzfristigen wirtschaftlichen Zielen verpflichtet sind. Dies trifft zum Beispiel für die Reduzierung von Treibhausemissionen zu.

Andererseits können zu starke staatliche Interventionen alternative Innovationen hemmen. Außerdem bergen sie das Risiko der Fehlallokation und schränken potenziell durch zu starke Vorgaben Flexibilität ein.

Technologieoffenheit ist dabei ein wichtiges Prinzip, das gewährleistet, dass der Markt und die Forschungsgemeinschaft frei sind, verschiedene Lösungsansätze zu verfolgen und letztendlich die effizientesten und nachhaltigsten Technologien hervorzubringen.

Thema Finanzierung. Im Januar 2024 überreichte Bundesminister Habeck einen Förderbescheid über 2,6 Mrd.  für grünen Stahl im Saarland. Die Ansiedlung des US-Chipherstellers INTEL in Sachsen-Anhalt wird mit 9,9 Mrd. Euro subventioniert. In Deutschland gibt es 2.500 Förderprogramme für Unternehmen. Mit ihrer Inflation Reduction Act planen die USA staatliche Investitionen in Höhe von 369 Mrd. USD allein in den Klimaschutz, vornehmlich in Batterietechnik und den Aufbau von Wasserstoffstrukturen. Weltweit wird der Eindruck seitens der Politik erzeugt, der Transformationsprozess sei allein durch staatliche Förderung und Subventionen finanzierbar. Ist dies realistisch oder häufen wir einen gigantischen Schuldenberg auf, der unsere Nachfolgegenerationen nachhaltig belasten wird?

Prof. Dr. Klaus Schmidt:

Die genannten Beispiele verdeutlichen das enorme finanzielle Engagement von Staaten, um den Übergang zu grünen Technologien und Industrien zu beschleunigen. Und für dieses Engagement sprechen gewichtige Gründe. Es führt zum Anstoß von Investitionen, die ohne solche Anreize nicht zustande kommen würden. Außerdem beschleunigen sie die Transformation und es werden Arbeitsplätze geschaffen, die durch den Strukturwandel verursachte Arbeitsplatzverluste kompensieren. Allerdings sind die langfristigen finanziellen Risiken nicht von der Hand zu weisen. Auch birgt die Vielzahl von Förderprogrammen das Risiko der Ineffizienz und der Fehlallokation von Ressourcen. Eine staatliche Förderung allein kann die notwendigen Investitionen in den Transformationsprozess nicht decken. Vielmehr ist eine strategische, effiziente und zielgerichtete Verwendung der Fördermittel erforderlich, die gekoppelt mit attraktiven Rahmenbedingungen für private Investitionen den Transformationsprozess unterstützen kann, ohne zukünftige Generationen unverhältnismäßig zu belasten.

Deutschland galt immer als ein Hauptprofiteur der Globalisierung. Nicht nur Produktions-, sondern auch zunehmend Entwicklungsfunktionen wurden unter Kostengesichtspunkten oder Aspekten der Marktnähe global verteilt. Möglich machte dies ein perfekten Logistiksystem, das stabile Lieferketten garantierte. Im Zug der globalen politischen Verschiebungen und auch aus Aspekten des Klimaschutzes zeichnet sich eine Gegenbewegung ab, die vor allem die Reduzierung der Abhängigkeit von anderen, politisch als nicht zuverlässig geltenden Ländern aber auch die Reduzierung von CO2 durch unnötig lange Lieferprozesse im Auge hat. Welche Bedeutung hat diese Entwicklung für den Logistiksektor?

Prof. Dr. Klaus Schmidt:

Diese Gegenbewegung, teilweise auch als „Nearshoring“ oder „Reshoring“ bezeichnet, hat tiefgreifende Auswirkungen auf den Logistiksektor in Deutschland und weltweit.

Die Verkürzung und Regionalisierung der Lieferketten führen zu einer Verschiebung der Transportrouten und -modi mit einem möglichen Rückgang von Seeverkehr und Langstreckenflugtransport und einer potenziellen Zunahme von Transporten auf der Schiene und der Straße innerhalb Europas oder regionaler Blöcke.

Um die Effizienz der näher an den Produktionsstätten und Verbrauchermärkten gelegenen Logistikprozesse zu maximieren, sind Investitionen in fortschrittliche Logistiktechnologien erforderlich. Automatisierung, digitale Zwillinge von Lieferketten, IoT-Anwendungen und Künstliche Intelligenz für die Routen- und Lageroptimierung werden an Bedeutung gewinnen.

Die Pandemie und geopolitische Spannungen haben die Bedeutung resilienter Lieferketten hervorgehoben. Unternehmen und Logistikdienstleister müssen resilientere Netzwerke aufbauen, was die Diversifizierung von Lieferanten, die Erhöhung von Lagerbeständen kritischer Güter und die Entwicklung von Notfallplänen beinhaltet. Das früher vorherrschende Kostenargument ist eindeutig hinter den Aspekt langfristig stabiler Rahmenbedingungen von Lieferketten zurückgetreten.

Die Transformation betrifft alle Bereiche unternehmerischen Handels und macht auch vor den Belegschaften nicht halt. Seitens der Gewerkschaften wird der Eindruck erweckt, die Transformation sei mit den bestehenden Belegschaften mittels gezielter Qualifikationen beherrschbar. Ist dies angesichts struktureller Veränderungen und neuer Technologien eine realistische Sicht der Dinge oder bedarf es auch hier weitreichenderer Maßnahmen?

Prof. Dr. Klaus Schmidt:

Die Auffassung der Gewerkschaften reflektiert einen optimistischen, aber auch notwendigen Ansatz. Die Notwendigkeit der Qualifikation und Umschulung der Belegschaften ist unbestritten. Dies ist insbesondere dort relevant, wo bestehendes Fachwissen eine solide Grundlage bietet, auf der neue Fähigkeiten aufgebaut werden können. Schwieriger gestaltet sich die Situation dort, wo technologischer Wandel und strukturelle Veränderungen zu einer Diskrepanz zwischen der aktuellen Qualifikation der Arbeitskräfte und den Anforderungen der neuen Arbeitsplätze führen. Hier benötigen Unternehmen Unterstützung durch klare politische Rahmenbedingungen und Anreize. Dies beinhaltet finanzielle Unterstützung für Weiterbildungsprogramme, die Anpassung von Bildungssystemen an die Erfordernisse des Arbeitsmarktes und vor allem die Förderung von Lebenslangem Lernen.

Letztlich bedarf es eines ganzheitlichen Ansatzes, der nicht nur Weiterbildung und Umschulung umfasst, sondern auch die Schaffung von Arbeitsplätzen in neuen Branchen, die Anpassung von Arbeitsbedingungen an veränderte Realitäten und die aktive Gestaltung des strukturellen Wandels.

Erfolgreiche Beispiele zeigen, dass ein wesentlicher Faktor die intensive und mitgestalterische Einbindung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern darstellt.

Das Gespräch führte Dr. Rudolf Müller,  freier Journalist für OEM&Lieferant digital

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