Warum Zulieferer ihre Strategien jetzt neu denken müssen

Einschätzungen von Andreas Heinzelmann, Managing Partner, und Andreas Grundnig, Partner und Director Business Unit der Ingenics AG

Der Systemwechsel vom Verbrennungs- zum Elektromotor ist mit regelrechten technischen Umbrüchen verbunden. Das ist keine neue Erkenntnis. Doch nun ist zu beobachten, dass die Hersteller die Hochlaufkurven für die Elektrofahrzeuge vorziehen, weil die Nachfrage schneller zunimmt als erwartet und die Absatzpotenziale entsprechend steigen. Diese Dynamik hat viele überrascht. In der Folge verschieben sich auch die Produktionsvolumen der Komponenten für Fahrzeuge mit Elektroantrieb schneller. Strategien, die die Zulieferer dabei unterstützen, diese Situation zu bewältigen oder sogar gestärkt daraus hervorzugehen, sind jetzt von größter Bedeutung.

Die wesentlichen Herausforderungen sind mit den umwälzenden Veränderungen bei der Motorisierung verbunden. Aus der Sicht der Lieferanten ist der entscheidende Unterschied der, dass beim Elektrofahrzeug ganze Module entfallen, ohne dass eine vergleichbar aufwendige neue Technik ihr Verschwinden kompensieren würde. Durch den sich abzeichnenden beschleunigten Wandel ändert sich der Anpassungsbedarf seitens der Lieferanten nicht grundsätzlich, aber sie haben weniger Zeit, um auf die größte Aufgabe zu reagieren: Elektrofahrzeuge benötigen völlig andere Module als Verbrenner, sodass einige Lieferanten, die ganz vom herkömmlichen Antriebsstrang abhängig sind, nicht mehr gebraucht werden.

Die Euro-7-Norm bedeutet das Aus für Verbrennungsmotoren

Die Ära des Elektrofahrzeugs kommt also schneller, und entsprechend schneller müssen die Zulieferer reagieren. Wenn, vermutlich 2025, die Euro-7-Norm in der aktuell diskutierten Form in Kraft tritt, wird das Ende der Verbrennungsmotoren besiegelt – schon wenige Jahre später sollen sie nicht mehr zugelassen werden. Bereits heute wird deutlich, dass sich das Elektrofahrzeug fest etabliert hat; die Volumen nehmen zu, und der Elektromotor ist dabei, zum Maß der Dinge zu werden. Da die Hersteller nun keine Wahl mehr haben, müssen sich die Zulieferer konsequent auf die Transformation einstellen. Aus der Sicht der Lieferkette ist für den Umfang der Anpassungsanstrengungen vor allem entscheidend, auf welche Module man sich spezialisiert hat. Wer Produkte zuliefert, die im Zusammenhang mit dem Antrieb stehen, muss sich umfassend anpassen und sollte sich spätestens jetzt neu orientieren. Optimalerweise haben einige Lieferanten ihre Strategien bereits überdacht und befinden sich in verschiedenen Phasen der Umsetzung. Da sich alle Zulieferer, die sich mit dem Antriebsstrang beschäftigen, seit geraumer Zeit mit dem Thema befassen, wird wohl keiner ganz kalt erwischt. Wirklich überraschend ist aber die Beschleunigung, die das Thema gerade erfährt.

Es ist nicht nur die Technologie des Antriebsstrangs an sich, die sich beim Wechsel vom Verbrennungs- zum Elektromotor grundlegend verändert. Die sehr viel einfachere Kraftübertragung beim Elektroautomobil führt auch zu einer Reduzierung der Antriebsvarianten, wodurch sich die Varietät der Teilegruppen – sogar herstellerübergreifend – reduziert. Für die Achse wird allerdings ein zusätzlicher Elektroantrieb eingesetzt, sodass immerhin auch künftig Antriebswellen und ein Differenzial benötigt werden. Die Vereinfachung der Gehäusetechnik betrifft den Aludruckguss, macht ihn aber nicht komplett überflüssig.

Statt Engpässen wird es künftig Überkapazitäten geben – Preise werden sinken

Nahezu alle beweglichen Teile des Motors entfallen, auch die Kupplung und das Schaltgetriebe. Wo statt der gewohnten Lieferengpässe künftig Überkapazitäten entstehen, weil der Bedarf einer Technologie rückläufig ist, werden die Preise sinken. Zahnräder beispielsweise werden nur noch zum Umschalten in den Rückwärtsgang benötigt. Generell ist alles betroffen, was mit Zerspanung und Grauguss zu tun hat. Die entsprechenden Zulieferunternehmen werden ihre Kostenstruktur überprüfen und sich neu aufstellen müssen, um in dem zu erwartenden Preiskampf bestehen zu können. Wettbewerbsfähig bleibt der Lieferant, der frühzeitig seine Kosten dem Wandel anpassen kann. Ein Ausweg kann anorganisches Wachstum durch Zukäufe sein – falls man die Möglichkeit hat. Eine Alternative ist, sich rechtzeitig um Aufträge für andere Module oder Komponenten zu bemühen.

Aufatmen können vor allem die Spezialisten für Module, die nicht vom Antrieb abhängen

Wer sich dafür entschieden hat, auf Module zu setzen, die im Elektrofahrzeug neu sind – neben dem Antrieb und der Batterie, die von den Herstellern selbst verantwortet werden, handelt es sich um elektronische Komponenten, digitale Steuerungselemente etc. –, muss spätestens jetzt umfangreich investieren. Vergleichsweise entspannt dürfen Lieferanten von Modulen, die weitgehend unverändert erhalten bleiben, in die Zukunft blicken. Dazu gehören Anbieter von Karosserieteilen, Scheiben und Schließsystemen, Airbags, Spiegeln und Sitzen, Scheinwerfern, Audiosystemen und Connectivity. Hier werden sich vielleicht einige Materialien, nicht aber die Volumen verändern.

Parallel zur Entwicklung der neuen Fahrzeuge bietet die Elektromobilität neue Chancen im Umfeld. Dazu gehört die Ladeinfrastruktur, die von Grund auf neu aufgebaut werden muss und noch nicht weit fortgeschritten ist. Die vom Wandel betroffenen Zulieferunternehmen sind gut beraten, genau zu ermitteln, wo es neue Wachstumspotenziale gibt und welche Märkte noch attraktiv zu werden versprechen. Es gilt, sich für eine „Economy of Scales“ zu entscheiden und Kosteneinsparungen durch Menge zu realisieren, um Mitbewerber zu verdrängen, oder anderweitig die Kostenstrukturen zu optimieren – beispielsweise durch Eliminierung von Verschwendung und Automatisierung. Wo dazu umfangreiche Investitionen erforderlich sind, kann es sinnvoll sein, das unternehmerische Potenzial in neuen Allianzen oder Fusionen zu bündeln.

Nicht alle werden die Transformation überstehen, aber wer sich flexibel zeigt, hat gute Chancen

Für einige Zulieferer wird der Wandel vom Verbrennungs- zum Elektromotor keinerlei oder nur geringfügige Veränderungen bringen. Bei allen Technologien rund um den Antrieb jedoch kommt es zu fundamentalen Umwälzungen. Darüber, wer in diesem Bereich den Wandel überstehen wird, entscheiden Größe, Flexibilität und unternehmerische Weitsicht. Die Motorvarianten sinken, Module können voraussichtlich herstellerübergreifend angeboten werden, sodass das Volumen pro Variante zunimmt. Von solchen „Skalierungseffekten“ werden erfahrungsgemäß die wettbewerbsfähigeren Unternehmen profitieren, die über der „kritischen Größe“ liegen. Je stärker die hersteller- und markenübergreifende Standardisierung fortschreitet, desto schlechtere Überlebenschancen haben die hochspezialisierten „Kleinen“. Bei Zulieferprodukten, deren Bedarf sinkt, entstehen Überhänge an Produktionskapazitäten, was zwangsläufig zu sinkenden Preisen führt. Wettbewerbsfähig bleiben Lieferanten von noch benötigten Modulen mit einer angepassten Kostenstruktur bzw. der wirtschaftlichen Potenz, ein anorganisches Wachstum durch Zukäufe zu erzielen. Die Beschaffungsstrategien an sich werden sich kaum verändern, da die Hersteller – mit Ausnahme der Batterieproduktion – kein Interesse an einer größeren Wertschöpfungstiefe haben. Es führt aber kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass einige Lieferanten, die sich ausschließlich mit Technologien und Produkten rund um den Verbrennungsmotor beschäftigen, in wenigen Jahren nicht mehr gebraucht werden. Insbesondere Gießereien werden betroffen sein. Die Empfehlung an ihre Adresse lautet, sich so schnell wie möglich weitere bzw. neue Standbeine zu schaffen und beispielsweise in Batteriemodulmontage oder Ladeinfrastruktur zu investieren.

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Dieser Beitrag wurde erstmals im Juni 2021 im Ingenics Magazine Nr. 6 veröffentlicht. Lesen Sie in dieser Ausgabe weitere Beiträge zu den Transformationstreibern Digitalisierung und Elektromobilität.


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