Branchenführer scheitern oft daran, dass sie sich nicht schnell genug disruptiven Entwicklungen anpassen. Im Weg steht häufig der eigene Erfolg. Um den Anschluss nicht zu verlieren, sind weniger technologische als strukturelle Veränderungen erforderlich.

Von Sven Sommerfeld, Managing Director bei Nagarro

Lange hat die deutsche Automobilindustrie erfolgreich an traditioneller Ingenieurskunst und bewährten Geschäftsmodellen festgehalten, nun sieht sie sich einem Innovator’s Dilemma entgegen: Sie wird damit konfrontiert, dass neue Wettbewerber mit disruptiven Ideen und innovativen Produkten in kürzester Zeit den Markt aufmischen. Was früher für einen vorübergehenden Trend gehalten wurde, entwickelt sich heute zum Wettbewerbsvorteil. Das Problem liegt dabei nicht in mangelndem Know-how oder fehlenden Ressourcen – häufig steht der eigene Erfolg im Weg.

Anschaulich wird das bei der Elektromobilität. Elektrofahrzeuge gab es schon in den 1830er Jahren, und auch in Deutschland regte sich früh der Erfindergeist. Nach dem Abschwung in den 1920er Jahren wurden elektrisch betriebene Fahrzeuge jedoch zur Nische, und erlebten ihr Comeback erst, nachdem neue Wettbewerber den Markt neu ordneten. Wie stark die Automobilindustrie hier vom Innovator’s Dilemma betroffen ist, zeigt sich daran, dass selbst Unternehmen, die noch vor wenigen Jahren als innovativ galten, ständig unter Druck stehen. So hat BYD – vor fünf Jahren bei vielen Marktteilnehmern noch gar nicht auf dem Radar – unlängst ein neues System für Elektroautos vorgestellt, mit dem in nur fünf Minuten etwa 470 Kilometer Reichweite nachgeladen werden können. Marktführer Tesla braucht dreimal länger und kommt weniger weit, Mercedes schafft immerhin 325 Kilometer in zehn Minuten.

Das Innovator’s Dilemma – warum es gerade jetzt zuschlägt

Das Innovator’s Dilemma beschrieb der ehemalige Harvard-Professor Clayton Christensen bereits 1997 in seinem gleichnamigen Buch. Innovative Unternehmen verfolgen einen Trend in einem aufstrebenden Markt mit einer kleinen Zielgruppe und greifen dann an, wenn ihre Technologien und Produkte bereit für eine breite Nutzung sind. Für Marktführer, die diesen Trend lange für uninteressant gehalten und sich auf ihre eigenen Stärken konzentriert haben, ist es dann meist schon zu spät. Zumindest bedeutet es einen enormen Kraftakt, den Rückstand wieder aufzuholen.

Was in der Automobilindustrie passiert, zeigt sich auch in anderen wettbewerbsintensiven Branchen. Ein gutes Beispiel ist Google. Das Unternehmen wird bis 2026 schätzungsweise ein Viertel seines Suchvolumens über seine traditionelle Suchmaschine an KI-Chatbots und -Assistenten verschiedener Start-ups verlieren, die mithilfe von Large Language Models aus einer viel größeren Anzahl an Quellen deutlich schnellere, genauere und visuellere Ergebnisse erzielen. Das Interessante dabei: Google hat sich auf den Angriff auf sein Tech-Monopol sogar vorbereitet und wurde dennoch überrascht – weil es zu träge und risikoscheu geworden ist. Sein Sprachmodell LaMDA war bereits entwickelt, schaffte aber nie den Durchbruch, aus Angst, ein neues Produkt könne die Erträge des Kerngeschäfts schmälern. Mittlerweile sprechen alle nur noch von ChatGPT und Google hat längst seinen 90-prozentigen Marktanteil verloren.

Tiefgreifendes Um- und Weiterdenken gefordert

Was es braucht: die Bereitschaft zur echten Transformation – gerade in einer fremdgesteuerten und hochregulierten Branche wie der Automobilindustrie. Organisatorisch und kulturell, aber natürlich auch technologisch hin zu elektrischen und autonomen sowie softwaregesteuerten Fahrzeugen. Deutsche OEMs müssen in der Lage sein, Ideen und Ansätzen, die zunächst unrentabel und irrelevant für das Kerngeschäft erscheinen, nachzugehen, anstatt wie bisher bestehende Produkte weiter zu perfektionieren. Dazu zählen beispielsweise Investments in neue Antriebstechnologien, Ladeinfrastrukturen, Netzausbau und Hochvolt-Batterien im Bereich Electrified Mobility, in moderne Fahrzeugfunktionen und digitale Services im Bereich Connected Vehicle, in Technologien wie assistiertes Fahren und automatisiertes Parken im Bereich Autonomous Driving sowie in neue Fahrzeugbezugsmodelle wie Sharing, Miete und Leasing im Bereich Shared Mobility. Die Basis von allem sind Daten, die wiederum den Einsatz von künstlicher Intelligenz ermöglichen, um Transformationen voranzutreiben, schnellere Markteinführungszeiten zu gewährleisten und Kundenanforderungen zu bedienen. Dies bedeutet auch, dass trotz der schwierigen Marktverhältnisse und schwindender Gewinne weiter investiert werden muss. Speziell beim effizienten Einsatz von Daten, um die Kundenerfahrung weiter zu bedienen und neue Umsatzbereiche aufzumachen, ist die Konkurrenz voraus. Ein Jahr ohne echten Fortschritt wird sich in dieser Branche wie fünf Jahre Rückstand anfühlen.

Was ist jetzt zu tun?

Mit diesem Wandel einher geht: Ressourcen umzuverteilen, agile Teams zu bilden, die frei von alten Denk- und Herangehensweisen neue Trends verfolgen, ökosystemübergreifend mit Start-ups und Wettbewerbern gemeinsam an digitalen und nachhaltigen Lösungen zu arbeiten sowie ein Mindset zu entwickeln, das sich durch Experimentierfreude, Risiko- und Fehlerbereitschaft auszeichnet. Nur dann ist (neues) Wachstum möglich.

Dass deutsche Unternehmen dazu fähig sind, haben sie längst bewiesen: Präzision, Qualität und Innovation sind nach wie vor hochrelevant. Doch der Weg in die Zukunft erfordert mehr Mut und die Abkehr von alten Paradigmen.

Während viele der neuen Marktteilnehmer mit Prototypen und Versprechen Schlagzeilen machen, haben deutsche OEMs längst damit begonnen, konkrete technologische Führungspositionen zurückzuerobern – besonders sichtbar im Bereich des autonomen Fahrens. Mercedes-Benz ist weltweit der erste Hersteller, der ein serienreifes Level-3-System mit internationaler Zulassung auf die Straße gebracht hat. Der „Drive Pilot“ erlaubt hochautomatisiertes Fahren bis 95 km/h auf geeigneten Autobahnabschnitten – nicht als Laborlösung, sondern im realen Kundenbetrieb in Deutschland und den USA. BMW zieht mit dem „Personal Pilot L3“ nach, vorerst mit 60 km/h auf ausgewählten Strecken, und demonstriert damit ebenfalls technologische Reife, wenn auch mit konservativerer Marktstrategie.

Auch beim Thema Ladeleistung – einem der zentralen Differenzierungsmerkmale im Wettbewerb der Elektromobilität – setzen deutsche Premiumhersteller Maßstäbe. Mercedes-Benz ermöglicht mit seiner aktuellen Technologie Reichweitenzuwächse von bis zu 325 Kilometern in zehn Minuten. Parallel investieren die OEMs gemeinsam in den Aufbau eines High-Power-Charging-Netzes mit über 6.000 Ladepunkten – ein strategischer Schachzug, der Angst vor Reichweiten durch reale Infrastruktur löst und das Ladeerlebnis auf Premium-Niveau hebt.

Deutsche Hersteller zeigen: Marktführerschaft im 21. Jahrhundert entsteht nicht mehr allein durch Ingenieurskunst, sondern durch Systemdenken, Datenhoheit und digitale Kundenerlebnisse. Genau hier liegt die Chance. Die Herausforderungen sind groß, aber die Voraussetzungen stimmen: Kompetenz, Kapital, Kampfgeist. Jetzt braucht es vor allem eines: den Mut, Dinge loszulassen, um neue Wege zu gehen. Packen wir es an.

Text: Nagarro (v.i.S.d.P.)

Bild: AdobeStock