Aktuelle Entwicklungen in der Automobilindustrie und deren Auswirkungen auf die Standardisierung

Das Mobilitätsverhalten ändert sich aktuell so schnell wie nie zuvor. Während smarte Funktionen und ein hoher Fahrkomfort schon lange zum Standard gehören, fordern Politik und Gesellschaft Lösungen für eine umweltfreundliche, nachhaltige und sichere Mobilität. Zwei Innovationsfelder sind hier von besonderer Bedeutung: elektrische und alternative Antriebe sowie die zunehmende Digitalisierung und automatisiertes Fahren. Fahrzeuge werden folglich immer leistungsfähiger und intelligenter und benötigen entsprechend mehr Rechenleistung. Die Komplexität der E/E-Systeme steigt und mit ihr die Anforderungen an die fahrzeuginterne Kommunikation in Bezug auf höhere Bandbreiten, geringere Latenzzeiten sowie die fehlerfreie Datenübertragung.

Der leistungsfähigen, sicheren und kostengünstigen Vernetzung der einzelnen elektronischen Systeme kommt daher eine immer größere Bedeutung zu. Dazu setzen steigende Energie- und Materialkosten die gesamte Automobilbranche unter Druck. Die Optimierung von Kosten- und Erlösstrukturen über den gesamten Fahrzeuglebenszyklus hat daher mehr denn je oberste Priorität. Die Antwort der Branche auf diese Entwicklung ist die Standardisierung. So werden Bereiche, in denen es kaum Differenzierungspotential gibt, standardisiert.

Standardisierung in der Fahrzeugdiagnose – Qualität, Effizienz und Investitionsschutz im Fokus

Die Verwendung von Standards in nicht-wettbewerbsrelevanten Bereichen eröffnet eine Vielzahl von Vorteilen über den gesamten Fahrzeuglebenszyklus. Einer der wesentlichen Vorteile der Standardisierung in der Fahrzeugdiagnose sind deutlich kürzerer Entwicklungszeiten insbesondere durch den Aufbau einer zentralen Datenbasis für Diagnosedaten (ODX ISO 22901-1, Open Diagnostic Data Exchange). Die Wiederverwertbarkeit der einmal erstellten Daten in Entwicklung, Produktion und Service sowie die Verfügbarkeit von Tools verschiedener Hersteller, die alle auf diesem Datenformat basieren und über standardisierte Schnittstellen verfügen, stellt eine enorme Vereinfachung der meist vorhandenen heterogenen Welt dar. So bietet sich die Möglichkeit, Diagnosetools unternehmensweit modular aufzubauen, was dann eine hohe Wiederverwertbarkeit der einzelnen Komponenten in den verschiedenen Unternehmensbereichen ermöglicht.

Beispielsweise ist durch geeignete Schnittstellen die Diagnose-Hardware (VCI, Vehicle Communication Interface) weitgehend austauschbar und kann anwendungsspezifisch von verschiedenen Herstellern bezogen werden: z. B. Hochleistungs-Interfaces für die Produktion und Low-Cost-Schnittstellen im Aftersales. Auch das darüber liegende Diagnoselaufzeitsystem kann je nach Anforderungen hinsichtlich Performance, Standardkonformität, Flexibilität und Kosten von verschiedenen Herstellern eingekauft werden. So lassen sich durch Standardisierung die Stückkosten deutlich reduzieren.

Kunden profitieren unmittelbar von den Ergebnissen der Standardisierung

Für eine übergreifende Interoperabilität und zur Sicherung der Investitionen unserer Kunden setzen wir bei Softing Automotive konsequent auf anerkannte, internationale Standards.

Als aktives Mitglied in den wesentlichen Standardisierungsgremien der Automobilelektronik, wie z. B. ASAM, SAE und ISO, gestalten wir die technologische Zukunft mit. Unsere Kunden profitieren dadurch unmittelbar von den Ergebnissen der Standardisierung.

Vorteile der Standardisierung auf einen Blick

  • Qualitätssteigerung
  • Wesentlich kürzere Entwicklungszeiten
  • Wiederverwertbarkeit einmalig erstellter Daten
  • Geringere Stückkosten

Interview mit Prof. Dr.-Ing. Stefan Goß

Wir haben mit Prof. Dr.-Ing. Stefan Goß über die aktuellen Entwicklungen der Automobilindustrie und deren Auswirkungen auf die Standardisierung insbesondere in der Fahrzeugdiagnose gesprochen. Dr. Goß ist Professor an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften in Wolfenbüttel (Standort Wolfsburg) und Leiter des Instituts für Fahrzeugsystem- und Servicetechnologien. Dort lehrt er neben den Grundlagen der Elektrotechnik und Elektronik die Fachrichtungen Fahrzeugdiagnose, KFZ-Sachverständigenwesen sowie Dokumentenmanagement und -security. Zuvor war Dr. Goß viele Jahre in der freien Wirtschaft unter anderem bei einem großen deutschen Fahrzeughersteller tätig. Heute ist er neben seiner Professur als freiberuflicher Berater für Fahrzeugtechnik aktiv. Dabei erlebt er, wie sich unterschiedliche Abteilungen mit neuen Technologien beschäftigen müssen. Eine der größten Herausforderungen in der E/E-Architektur sieht Dr. Goß heute in den neuen Bussystemen. Insbesondere der Übergang zu Ethernet auf dem Physical Layer stellt eine enorme Herausforderung dar. Dabei wird in der Branche immer wieder diskutiert, ob sich der Übergang zu Ethernet auch auf optische Bussysteme ausweiten wird. Dr. Goß hat hier eine klare Einschätzung:

„Ich glaube, dass wir in den nächsten Jahren und Jahrzehnten weiterhin Kupfer im Fahrzeug haben werden und keine Glasfaser. Die Reparaturverfahren bei optischen Lichtwellenleiter-Systemen in den Werkstätten benötigen besondere Kompetenzen, zum Beispiel die Einhaltung von Biege- und Knickradien. Im Gegensatz zu Glasfasern, die in Häusern verlegt werden, stellt dies im Fahrzeug eine ganz andere Herausforderung dar. Besonders wenn man dabei an den weltweiten Aftersales denkt, der ja mit der Technologie umgehen können muss. Aber auch bei Kupfer gibt es durch die technische Entwicklung zum Beispiel hin zu höheren Frequenzen große Herausforderungen. In der Ausbildung richten wir unsere Vorlesungen und unsere Labore gerade darauf aus.“

Mit zunehmendem Innovationsgrad neuer Fahrzeuge steigt die Komplexität der E/E-Systeme und mit ihr die Anforderungen an die fahrzeuginterne Kommunikation. Dazu werden Hochleistungsrechner im Fahrzeug benötigt. Doch Fahrzeughersteller können den Zulieferern aktuell nicht zusichern, dass sie jederzeit die Rechenpower bekommen, die sie benötigen. Wir haben Dr. Goß gefragt, wie er die Weiterentwicklung der High Performance Computer (HPCs) sieht:

„HPCs sind ein skalierbarer Treiber in der Fahrzeugelektronik“

„Das Auto wird auch in 20 Jahren nicht aus drei Hochleistungs-PCs und ein paar einfachen Sensoren bestehen. Ein wichtiger Grund hierfür ist dabei noch nicht einmal technischer Natur, sondern ganz einfach die Mehrlieferantenstrategie der Automobilhersteller. Heute wird auf Hardware-Ebene verhandelt. Der Einkauf von Software-Komponenten verschiedenster Hersteller auf zwei oder drei HPCs zu verdichten, kann ich mir nicht vorstellen. Es wird also weiterhin dezentrale Komponenten und Architekturen geben. Diese werden sicherlich mit weniger Steuergeräten auskommen und anders aussehen als heute.“ 

Wir beobachten in der Branche aktuell die Tendenz, alles in Hochleistungsrechner zu integrieren und dadurch an Gewicht und Material insbesondere Kupfer zu sparen. Unter anderem auch durch den Einsatz von Funktechniken bei der Kommunikation der Steuergeräte mit den HPCs. Dr. Goß steht dieser Euphorie jedoch skeptisch gegenüber:

„Durch die Safety-Anforderung über die ISO 26262 in Bezug auf funktionale Sicherheit wird dieser augenblickliche Hype einer Ernüchterungsphase weichen. Wir werden auch noch in 20 Jahren so etwas wie CAN oder LIN brauchen. Das harte Argument ist dabei das gute Verhältnis zwischen Datenrate, Safety und Kosten. Der Ansatz der HPCs bleibt dabei unumstritten. Aber man muss nicht gleich alles in die HPCs integrieren.“

Wir haben mit Dr. Goß überwiegend über HPCs im PKW-Bereich gesprochen. Daneben interessiert uns auch seine Einschätzung in Hinblick auf LKWs oder fahrende Arbeitsmaschinen. Hier werden HPCs laut dem Experten eine noch wichtigere Rolle einnehmen:

„Wir sehen an der Fakultät Fahrzeugtechnik gerade in den Bereichen Agrar- und Schiffstechnik mit ihren höheren Anforderungen die Notwendigkeit der Hochleistungs-PCs. Landmaschinen fahren teilweise heute schon vollautonom auf den Feldern. Der Austausch von Erfahrungen und Kompetenzen sollte mit diesen vorreitenden Industrien vorangetrieben werden. Eine Skalierbarkeit der HPCs auf diese Bereiche wäre technisch und betriebswirtschaftlich sehr sinnvoll. Deswegen haben wir auch für unsere Fakultät einen neuen Slogan entwickelt: „Mobilität von morgen gestalten“.“ 

Diagnose im Wandel – Zentralisierte Rechenleistung

Für jede Hauptfunktion des Fahrzeugs existiert ein Steuergerät (Electronic Control Unit, ECU). Jede ECU implementiert eine Überwachung seiner Umgebung, die sogenannte Eigendiagnose. Die Steuergeräte sind über Bussysteme miteinander verbunden – in der Regel über ein Zentral-Gateway, das auch mit der OBD-Buchse verbunden ist. So kann ein Werkstattmitarbeiter einen externen Tester anschließen, in dem Algorithmen Daten von den Steuergeräten auslesen und diese zu sinnvollen Reparaturanweisungen verbinden. Das autonome Fahren fordert im Fahrzeug allerdings deutlich höhere Rechenleistungen, als sie über heutige ECUs zur Verfügung gestellt werden können. Folglich werden – aus Redundanzgründen mindestens zwei – High Performance Computer (HPC) ins Fahrzeug eingebaut.

„SOVD wird der zukünftige Diagnosestandard“

Die mit HPCs ausgestatteten leistungsfähigeren Fahrzeuge bringen enormen Fortschritt mit sich, stellen jedoch die gesamte Automobilbranche vor neue Herausforderungen. So auch auf die Diagnosewelt. Das Diagnosekommunikationsprotokoll UDS (ISO 14229, Unified Diagnostic Services) wird bspw. in Zukunft nicht mehr ausreichen. Der Einsatz eines neuen Standards SOVD (Service-Oriented Vehicle Diagnostics), definiert im ASAM e.V., wird sowohl in Werkstätten als auch für die Remote-Diagnose notwendig. SOVD definiert eine Schnittstelle, welche die Diagnose am Fahrzeug, etwa in der Werkstatt direkt am Fahrzeug (Proximity), über einen Fernzugang (Remote) oder als Tester direkt im Fahrzeug (In-Vehicle) ermöglicht. Dabei sollen zur Vereinfachung der Standardisierung und der späteren Implementierungen möglichst viele existierende Mechanismen und Standards verwendet werden (z. B. TCP/IP).

In der Diskussion rund um HPCs in Fahrzeugen kommt immer wieder auch die Eigendiagnose ins Gespräch. Ob die Diagnose in Zukunft ebenfalls vollständig von der Werkstatt in das Fahrzeug ausgelagert wird, ist auch trotz SOVD unrealistisch. Denn es wird ja in der Regel nur für Größen, die für die Fahrfunktion benötigt werden, ein entsprechender Sensor im Fahrzeug verbaut werden. Wenn Messwerte für eine Reparatur gebraucht werden, die das Fahrzeug nicht selbst generieren kann, müssen diese von einem Mechatroniker mit einem Messgerät vor Ort erfasst werden. Anders sieht das allerdings bei Fehlersuchverfahren aus, die auf Standardabläufen basieren, so Dr. Goß:

„Wenn die spezifischen Fahrzeugdaten im Fahrzeug zur Verfügung stehen, kann eine Fehlersuche über „Request and Response“ auch aus der Ferne über eine ausgelagerte Diagnose im Fahrzeug erfolgen. Heute muss ein Tester die Diagnose für verschiedenste Fahrzeuge beherrschen. Ein Tester im Fahrzeug muss nur den Umgang mit den Diagnosedaten im eigenen Fahrzeug beherrschen. Das wird die Diagnose vereinfachen. Aber sie wird auch nicht auf eine Browserfunktion reduziert, weil oft noch Expertenwissen oder nachgelagerte Prozesse eine Rolle spielen. 

Andererseits erfordert das Thema SOVD eine andere Form der Zusammenarbeit zwischen Entwicklern von Diagnosetestern und den Fahrzeugherstellern. Das Anforderungsmanagement für die nächste Generation der Diagnosetester muss hier sehr genau abgestimmt werden. Diese Zusammenarbeit zu gestalten, stellt eine große Chance für alle Seiten dar.“

„SOVD führt zu einer veränderten Skalierung der Diagnoseanwendungen“

SOVD ist heute noch ein Zukunftsthema, dass sich noch beweisen muss. Letztendlich hängt die Standardisierung immer mit politischen oder auch technisch wirtschaftlichen Zielen zusammen. Aktuelle Trends bieten Potenzial zur weiteren Standardisierung. Wir haben Dr. Goß gefragt, was noch standardisiert werden müsste, damit es in Zukunft noch besser läuft:

„Im Bereich automatisiertes Fahren, sprich wenn ein Fahrer im Zweifel immer noch die Fahrerfunktionen nach einer gewissen Reaktionszeit übernehmen kann oder muss, erwarte ich durchaus weitere Standards. Und zwar zum Zweck der nachvollziehbaren Homologation und Typgenehmigung. Die Verantwortlichen, die wirklich Betriebserlaubnisse und Homologationen erteilen müssen, werden enorme zusätzliche Anforderungen hinsichtlich der Standardisierung stellen, um einheitliche und vertrauenswürdige Typprüfungen und -genehmigungen zu ermöglichen. Hier erwarte ich gewisse Einflüsse. Einer der größten Treiber wird garantiert in die Eigendiagnose der Fahrzeuge hinein gehen.Der zweite Treiber werden die Versicherungen sein, da die KFZ-Haftpflichtversicherung in ihrer klassischen Form ihre Bedeutung verlieren wird, weil man das Fahrzeug nicht mehr selbst steuert. Die Produkthaftung durch den Hersteller wird dadurch an Bedeutung gewinnen. Natürlich muss auch die Sicherheit der Technik hinterfragt werden. Erst wenn diese als sicher begutachtet wurde, kann man die Produktsicherheit erlangen. Mit dieser Bestätigung kann dann die Typgenehmigung bzw. Betriebserlaubnis erteilt werden. Diese Einflussgröße, wie man die Technik überprüfen kann, wird meiner Ansicht mittelfristig weitere Standardisierungen mit sich bringen.“ 

Interessant wird es in diesem Zusammenhang auch, wenn es zur Nachweispflicht kommt und zuverlässig erfasst werden muss, ob das Fahrzeug autonom, vollautomatisiert oder teilautomatisiert unterwegs war. Moderne Fahrzeuge sind heute mit einem Event Data Recorder, dem „Flugschreiber“ des Fahrzeugs, ausgestattet. Dr. Goß hält diese jedoch für unzureichend für die zukünftigen Herausforderungen:

„Die aktuellen Event Data Recorder werden nicht reichen. Um die Authentizität dessen abzusichern, was ein Recorder vor und nach einem Crash aufzeichnet, sind entsprechende Maßnahmen nötig. Ziel sollte es sein, dass die Daten unverändert herangezogen werden können, um integer Auslöser auslesen und analysieren zu können. Also letztendlich Unfallforensik auf einem neuen Niveau und das wird auch die Standardisierung vorantreiben.“

Dr. Goß teilt damit unsere Philosophie, dass die Standardisierung ein Treiber für Qualität sein kann. Um bei dem Beispiel Typprüfung, Typgenehmigung und Erteilung einer Betriebserlaubnis zu bleiben, beginnt die Gesamtqualität mit der Qualität der Prüfung von Produkten, die in der Regel aus vernetzter Hard- und Software bestehen. Die sichere Freiprüfung zur Erteilung einer Betriebserlaubnis ist wesentliches Indiz dafür, wie Massenprodukte später im Markt funktionieren. Dr. Goß ergänzt:

„Standardisierung ermöglicht enorme Effizienzgewinne, darf aber nicht zu Überregulierung führen“

„Sind dort dann noch Standards vorhanden, die es den Beteiligten erlauben, die Prüfung möglichst gut durchzuführen und mit einem möglichst guten Gewissen die Betriebserlaubnis zu erteilen, dann sind wir an der Stelle schon ein großes Stück weiter. Hier sehe ich besonders den direkten und unmittelbaren Zusammenhang zwischen Qualität und Standards. Insbesondere bei der Markteinführung neuer Massenprodukte sehe ich wirklich ganz große Vorteile.“

Auch in der Kommunikationstechnik und der Datenverarbeitung wurde in Standardisierungsgremien in den letzten Jahren eine enorme Qualitätssteigerung erreicht. Es herrscht Bewusstsein für die Notwendigkeit von Standards und es werden kompetente Leute von den Firmen entsandt. Standards werden von Menschen gemacht, die das entsprechende Grundwissen und jahrelange Erfahrung haben und vor allem wissen, wie man Standards macht und wo die Standardisierung für alle Beteiligten sinnvoll ist. Viele OEMs und Zulieferer setzen jedoch auf eigene Technologien und versprechen sich davon, ein positives Alleinstellungsmerkmal zu etablieren. Dabei stellt sich aber auch die Frage, ob eine proprietäre Lösung als optionale Erweiterung ein Alleinstellungsmerkmal vorantreibt oder den Versuch unternimmt, einen Standard auszuhebeln, um den Markt zu beherrschen. Dr. Goß rät hier zu differenzieren:

„Ich glaube, es ist eine sehr wichtige Diskussionsgrundlage, welche Motivation mit einer proprietären Lösung überhaupt verfolgt wird. Ist es also eine positive Ergänzung oder ist es wirklich ein Versuch, sich die Marktmacht zu erhalten? Diese Trennung muss man bei der Frage immer im Auge behalten.“

In unserem täglichen Geschäft erleben wir häufig, dass versucht wird, an Standards vorbei eigene Lösungen als „Defacto-Standard“ zu setzen. Dabei stellt sich die Frage, ob es auf Dauer eine gute Lösung ist, sich von einem Anbieter abhängig zu machen. Das passiert schon, wenn man z. B. auf ein bestimmtes Kabel angewiesen ist, statt die vorhandenen Standards zu benutzen. Für Endkunden stellt das weniger ein Problem dar. Für Fahrzeughersteller und Zulieferer ergibt sich daraus jedoch eine hohe Abhängigkeit. Einer der großen Vorteile für unsere Kunden ist es, dass sie sich mit unseren Produkten nicht abhängig machen. Wir haben Dr. Goß in diesem Zusammenhang gefragt, wie er die Zukunftsfähigkeit proprietärer Lösungen einschätzt:

„Freiheitsgrade in der Standardisierung erlauben Differenzierung – final auch in der Kundenzufriedenheit“

„Manche Firmen versuchen eine marktnachteilige Ausnutzung proprietärer Lösungen. Ich habe daneben aber die Sorge, dass es zu einer Überregulierung in Form von Standards plus Regulierungen kommt. Hierzu ein konkretes Beispiel: Wir haben auf der einen Seite die ISO und die ISO-Standards. Diese sind in der Regel implementierungsunabhängig. Daneben gibt es die Wirtschaftskommission für Europa der Vereinten Nationen, abgekürzt UNECE, die in Form von ECE-Regulierungen enormen Einfluss auf die Mobilitätsindustrie nehmen. Und dann kommt der Gesetzgeber. Das kann national sein oder kontinental zum Beispiel Europa, Asien oder USA. Und damit haben wir drei sehr starke Einflüsse, die aufeinanderprallen und die sich durchaus widersprechen können. In Summe haben wir also nun die ISO, die UNECE und die Gesetzgeber. 

Ich bin Gründungsmitglied vom ISO Standard 20730 und habe bis zur Veröffentlichung mitgearbeitet. In den Use Cases, die dort beschrieben sind (z.B. Fahrgestellnummer auslesen, etc.) wurde das Ganze dann mit Bits und Bytes standardisiert. In diesen Use Cases haben Protagonisten verlangt, alles mit dem Status „Mandatory“ zu versehen. Kommt nun die UNECE und fordert, dass für eine bestimmte Technologie ein bestimmter Standard verpflichtend eingesetzt werden muss, übernimmt die Europäische Union diese Empfehlung in einer europäischen Verordnung. Und mit einem Schlag gilt ein kompletter ISO-Standard, also zum Beispiel die ISO 20730, als gesetzlich verpflichtend. Die damit verbundenen Auswirkungen technischer und betriebswirtschaftlicher Natur können alle Beteiligten, die das verordnen, oft gar nicht beurteilen. Wenn sich Betroffene dann, egal ob Automobil- oder Toolhersteller, melden und reklamieren, dass es wirtschaftlich überhaupt nicht abbildbar ist, dann ist es zu spät. Und das ist der Punkt, warum ich zur „Vorsicht!“ rate. Überstandardisierung in Verbindung mit Überregulierung ist gefährlich und würde dem erforderlichen Freiheitsgrad, sowie der notwendigen Kreativität schaden. In ISO 20730 erhielten im Übrigen nach viel Diskussion nur die zwingend not- wendigen Use Cases den Status „Mandatory“.“

Damit das beschriebene Vorgehen nicht auftritt, ist einer der Gründe, warum sich Softing Automotive in Standardisierungsgremien engagiert. Denn dadurch führen wir z. B. bei der Definition des SOVD-Standards Diskussionen in einem kompetenten Kreis und bringen diese anschließend in die ISO. Dr. Goß ist zwar großer Befürworter der Standardisierung, betont aber, dass es auch Vorteile proprietärer, ergänzender Lösungen gibt:

„Wir unterscheiden in der Diagnose zwischen dem Thema Abgasstrang, wobei hier der Gesetzgeber großen Einfluss nimmt und bis ins letzte DTC Vorgaben definiert hat, und den Bereich der Diagnose für Nicht-Abgasstrang. Letzteres bietet dem OEM im Rahmen der vorhandenen Standards einen hohen Freiheitsgrad zur Implementierung von Diagnosemöglichkeiten. Manche Automobilhersteller nutzen dies, um den Werkstätten sehr ausgeklügelte Diagnose-Mechanismen in der Offboard-Diagnose zur Verfügung stellen. Dies tun sie, da die Kundenzufriedenheit stark durch den erfolgreichen Service und die Vermeidung von Wiederholreparaturen beeinflusst wird. Aber über den Standard hinaus machen Funktionalitäten im Bereich der Diagnose bei der Fehlersuche (Fehlerort- und Fehlerart-Findung) als Ergänzungen Sinn. Das führt dazu, dass sich ein Automobilhersteller einen Marktvorteil erarbeiten kann, der sich zugunsten seines Produktes und der Kundenzufriedenheit auswirken kann. Und das ist durch die Gruppenfreistellungsverordnung dann im Prinzip in jedem Diagnosetool abbildbar. Hier hat die EU richtigerweise dafür gesorgt, dass es keine Einschränkungen gibt. Aber in diese proprietären Ergänzungen sollte sich der Gesetzgeber auch nicht einmischen. Auch nicht der Standardisierer.“

Mit SOVD haben wir im ASAM eine Schnittstelle definiert, die wirklich nur die äußerste Schnittstelle und nicht mehr die Implementierung betrifft. Auf der einen Seite heißt das, dass man hinter der SOVD-Schnittstelle auf dem Fahrzeug Hersteller-proprietär auf sehr einfache Art implementieren kann. Dies ermöglicht die notwendigen Freiheitsgrade für OEMs. Auf der anderen Seite gibt es die Zulieferer von HPCs und klassischen ECUs. Diesen erlaubt die SOVD-Schnittstelle eine einheitliche Implementierung, um auf effiziente Weise mehrere Hersteller bedienen zu können. Wir haben Dr. Goß nach seiner Einschätzung gefragt:

„Es sind in erster Linie die OEM-spezifischen Eigendiagnosen im Fahrzeug davon betroffen, dass Teile der Offboard-Diagnose mit SOVD ins Fahrzeug wandern. Wenn wir so einen „teilweisen“ Diagnosetester Onboard haben, steigt damit der Freiheitsgrad für die Automobilhersteller, was sie in den Responses alles nach außen zur Verfügung stellen. SOVD bietet dafür die Hülle für eine standardisierte Antwort. Aber im Content selbst bleibt den Automobilherstellern der Freiheitsgrad erhalten. Ich glaube nicht, dass es dazu kommt, dass die Automobilhersteller wieder vermehrt ihre Inhalte verdecken. Weil schon die ODX-Daten die Diagnosefunktionalität – auch von HPCs – beschreiben können. Ich glaube, dass der Verkauf von ODX-Daten von der EU weiterhin ganz klar gefordert wird – zu diskriminierungsfreien Preisen. Neben der Tatsache, dass wir mit SOVD ein selbstbeschreibendes Datenformat haben, müssen die implementierten Diagnoseinhalte in irgendeiner Form transparent dargestellt werden. Vielleicht wieder im Verkauf von ODX-Daten oder ähnlicher Dokumentation. Insofern wird nicht wieder, wie in grauer Urzeit, verschleiert und verdunkelt. Da wird der Gesetzgeber schon vorsorgen.“

„PoC beweist die Möglichkeit standardbasierter ePTI-Prüfabläufe“

Der Verkauf von Daten unter der Ägide des Gesetzgebers ist ein eingeführtes Verfahren. Schon im Rahmen der ePTI (electronic Periodic Technical Inspection), der „TÜV-Prüfung für die Elektronik im Fahrzeug“, werden von einer zentralen Stelle Daten von Fahrzeugherstellern eingesammelt und im Rahmen eines Prüfwerkzeugs den amtlich anerkannten Sachverständigen zur Verfügung gestellt.  Ein Standard könnte dazu zukünftig die geräteunabhängige Bereitstellung von ePTI-Prüfabläufen für Prüfwerkzeuge beschreiben. Wir haben Dr. Goß gefragt, wie er den Zusammenhang von ePTI, proprietären Lösungen und den Daten-Treuhändern sieht:

„Auch komplexe Funktionen können in die Cloud ausgelagert werden – beispielsweise für Extended Vehicle“

„Für die Gesamtarchitektur von Offboard- und Remote-Diagnosesystemen sind proprietäre Lösungen ein Nachteil, wenn sich einzelne Instanzen als unabhängiger Daten-Treuhänder anbieten, die ein Geschäftsmodell verfolgen. Schade ist, dass hier unsere freie Marktwirtschaft in diesem Ansatz nicht vollends gefahren wird. Hier versuche ich nachzuweisen, dass dies funktioniert. Genau deshalb haben wir zusammen mit Ihnen bei Softing und Volkswagen den Proof of Concept erstellt und basierend auf den Standards ODX und OTX eine herstellerunabhängige Implementierung von ePTI-Prüfabläufen bewiesen.“

Ein weiterer Trend ist Extended Vehicle. Das Auto wird in Zukunft eine dauerhafte Mobilfunk-Verbindung zu einem externen Backend haben. Und zwar nicht mehr nur für den Emergency Call nach einem Crash. Hierzu ein einfaches Beispiel: Ein Fahrzeughersteller hat beispielsweise eine Spracherkennung von Eigennamen, etwa einen Ortsnamen. Wenn man nun zu einem Ort navigieren möchte, dann sagt der Fahrer für die Zieleingabe den Ortsnamen, Straße und Hausnummer. Die Spracherkennung kann man mit Hard- und Software im Auto durchführen oder man macht es aus dem Backend heraus. Genau so funktioniert es auch, wenn man eine Google Navigation mit dem Smartphone durchführt. Die Routenberechnung erfolgt nicht auf dem Smartphone, sondern in einem Backend. Das bedeutet, dass Daten und Funktionen ausgelagert und während der Fahrt im Backend abgearbeitet werden. Für das Extended Vehicle gibt es bereits zwei ISO-Standards (ISO 20078 und ISO 20079), die im Augenblick in der Implementierung vorangetrieben werden. Das Thema Extended Vehicle wird in den kommenden Jahren in einer eigenen Diagnose in Verbindung mit hochautomatisierten und vollautomatisierten Fahren aber auch mit SOVD enormen Einfluss haben.

Dr. Goß rät, dass der Aspekt Extended Vehicle schon heute in der Planung neuer Diagnosetechnologien und bei der Tool-Unterstützung zur Erprobung von Extended Vehicles berücksichtigt werden sollten.

Neben den Vorteilen ergänzender proprietärer Lösungen eröffnet die Verwendung von Standards in nicht-wettbewerbsrelevanten Bereichen jedoch neben der Qualitätssteigerung eine Vielzahl von Vorteilen über den gesamten Fahrzeuglebenszyklus, z.B.:

  • Qualitätssteigerung,
  • wesentlich kürzerer Entwicklungszeiten,
  • Wiederverwertbarkeit einmal erstellter Daten sowie
  • deutlich geringere Stückkosten.

Wir haben uns gefragt, woran es liegen könnte, dass Fahrzeughersteller und Zulieferer dennoch proprietäre Lösungen einsetzen. Wir sind uns mit Dr. Goß einig und vermuten, dass das Bewusstsein, in Diagnose zu investieren, häufig nicht ausreichend gegeben ist.

Softing Automotive setzt seit Jahrzehnten auf die Vorteile der Standardisierung. Auch Dr. Goß ist überzeugt vom erheblichen Einsparpotential durch die Verwendung standardisierter Lösungen. Standards müssen jedoch einen rückwärtskompatiblen Erweiterungsspielraum für proprietäre Ergänzungen enthalten, um Alleinstellungsmerkmale für OEMs und andere Marktteilnehmer zu ermöglichen. In der Regel gibt es dafür bei Standards, sofern sie freigegeben sind, auch entsprechende Hardware und Softwarebibliotheken.

V.i.S.d.P.: Softing Automotive

Bild: Softing Automotive Softing_Automotive_Interview_Paper_Stefan_Goss_Ostfalia_Standardisierung_in_der_Fahrzeugdiagno-se_

Download: Interview Paper (PDF) und Grafiken in deutscher und englischer Sprache

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