Das Auto als digitale Plattform – modular, updatefähig und datenbasiert. Die Automobilbranche wird sich durch die Entwicklung der Software Defined Vehicles grundlegend wandeln. Für Hersteller ist es wichtig zu verstehen: Softwaredefinierte Fahrzeuge sind kein Techniktrend, sondern das strategische Fundament für zukünftige Geschäftsmodelle, Differenzierung vom Wettbewerb und Zugang zu Kunden.
Von Noah Dampmann, Head of Software-Defined-Vehicle bei Nagarro
Kundenerwartungen wandeln sich dramatisch. Immer mehr Käufer entscheiden sich nicht für eine Automarke, sondern für ein digitales Erlebnis. Hinzu kommen verschärfte regulatorische Anforderungen, der Umstieg auf Elektromobilität sowie ein wachsender Druck, datenbasierte Geschäftsmodelle nachhaltig zu etablieren. Im Fokus stehen zunehmend Software Defined Vehicles. Software ist hier nicht nur ein unterstützender Bestandteil, sondern die zentrale Steuerungsebene des Fahrzeugs. Sämtliche Fahrzeugfunktionen – von Sicherheitssystemen über Entertainment bis hin zu Fahrverhalten und Energieverbrauch – werden softwareseitig gesteuert. Updates erfolgen über Software, die zunehmend von physischer Hardware entkoppelt ist. Die Vorteile in dieser Entkoppelung bestehen vor allem in der Standardisierung, in geringeren Kosten, einer höheren Skalierbarkeit und mehr Flexibilität. In all dem liegt der Schlüssel zu langfristiger Wettbewerbsfähigkeit. Datenbasierte Erlöse rücken stärker in den Fokus. Laut Marktanalysen können Unternehmen durch die systematische Erhebung und Auswertung von Fahrzeugdaten über den gesamten Lebenszyklus eines Autos hinweg bis zu 720 Millionen US-Dollar jährlich erwirtschaften. Neue Monetarisierungsansätze – etwa In-Car-Abonnements oder „Features-on-Demand“ hinter einer Paywall – transformieren die Fahrzeugwertschöpfung grundlegend in Richtung Software.
Auto als Digital Device konzipieren
Ein modernes Auto ist kein reines Fortbewegungsmittel mehr – es ist ein digitales Service-Hub auf Rädern. Funktionen wie schlüsselloser Zugang, Sitzheizung, adaptives Matrixlicht, Autopilot oder digitale Farbwechsel der Karosserie lassen sich per Software aktivieren – temporär oder dauerhaft. Die Voraussetzung: Die entsprechende Hardware ist ab Werk integriert, aber nicht zwingend freigeschaltet. Kunden kaufen somit nicht mehr ein fest definiertes Produkt, sondern ein anpassbares digitales System. Software entscheidet über Kauf oder Ablehnung. Immer mehr Kunden stellen Fragen wie: Wie gut ist die Smartphone Integration? Gibt es regelmäßige OTA-Updates? Wie intuitiv ist das Interface? Aspekte wie Design oder Marke treten dabei zunehmend in den Hintergrund. Die Konsequenz für Hersteller: Fahrzeuge müssen von Anfang an als digitale Devices konzipiert werden – inklusive der nötigen Software-Architektur, der Infrastruktur für Updates und der Fähigkeit zur kontinuierlichen Funktionserweiterung.
Technologisch sind die Voraussetzungen für SDVs gegeben: Cloud-basierte Betriebssysteme, Edge Computing, OTA-Updates, zentrale Fahrzeugarchitekturen mit zonalen Controllern, all diese Elemente haben heute industrielle Reife erreicht. Wer jetzt nicht in Software Defined Vehicles und damit verbundene Themen wie künstliche Intelligenz, maschinelles Lernen und Konnektivität investiert, wird in der nächsten Produktgeneration abgehängt.
Welche Kernprobleme gelöst werden müssen
Trotz der Chancen ist der Weg zum SDV komplex, technologisch wie organisatorisch. Vier zentrale Herausforderungen lassen sich identifizieren:
- Komplexe Softwarelandschaft: Viele OEMs arbeiten mit bis zu acht Betriebssystemen und über 100 Steuergeräten pro Fahrzeug – ein Resultat gewachsener, oft unkoordinierter Entwicklungen.
- Legacy-Systeme bremsen aus: Bestehende Steuergerätearchitekturen und CAN-basierte Kommunikationssysteme sind nur schwer migrierbar und hemmen Innovationsgeschwindigkeit.
- Fehlende funktionale Trennung: Plattformen und Funktionen sind oft eng gekoppelt, was den Aufwand für Erweiterungen deutlich erhöht.
- Organisatorische Silos: Entwicklungsabteilungen für Hardware, Software, IT und Business agieren isoliert. Was fehlt, ist ein gemeinsames Verständnis für SDVs als integriertes Businessmodell.
Der Wandel erfordert nicht nur neue Technologien, sondern auch einen Kulturwandel. Unternehmen müssen Talente aufbauen, disziplinübergreifend arbeiten und sich als Softwareunternehmen verstehen – nicht als klassische Autobauer.
Technisch gibt es bereits konkrete Bausteine, um SDVs erfolgreich umzusetzen:
- Zentrale Domänenarchitekturen und zonale Controller: Reduzieren die Anzahl der Steuergeräte im Fahrzeug deutlich und schaffen die Grundlage für eine skalierbare, zentralisierte Fahrzeugarchitektur.
- Middleware-Plattformen: Abstrahieren die Hardware-Ebene und ermöglichen Over-the-Air-Updates sowie eine flexible Integration neuer Funktionen.
- Cloud-native Entwicklungsansätze: Etablieren Continuous Integration/Continuous Deployment (CI/CD) und DevOps-Methoden für Fahrzeugsoftware – für schnellere, stabilere Releases.
- Digitale Zwillinge und KI-gestützte Simulationsumgebungen: Beschleunigen Entwicklung und Validierung erheblich durch automatisierte Tests in virtuellen Umgebungen.
- Open-Source-Standardisierung: Fördert Kompatibilität, vermeidet proprietäre Einzellösungen und beschleunigt gemeinsame Innovationen entlang der Wertschöpfungskette.
- Funktionale Trennung zwischen Basisplattform und Feature-Ebene: Ermöglicht eine unabhängige Skalierung von Systemplattform und kundenrelevanten Funktionen – für mehr Agilität und Marktnähe.
Umsetzung braucht ganzheitlichen Ansatz
Die SDV-Transformation ist kein reines IT-Projekt, sondern eine unternehmensweite Neuaufstellung. Erfolgreiche OEMs setzen auf einen holistischen Ansatz, der folgendes beinhalten sollte:
- Plattformstrategie: Aufbau einer serviceorientierten Referenzarchitektur, die eine flexible und skalierbare Grundlage für alle Fahrzeugfunktionen schafft.
- Software Factory Enablement: Etablierung durchgängiger CI/CD-Pipelines, um Fahrzeugsoftware effizient, automatisiert und kontinuierlich entwickeln, testen und ausliefern zu können.
- Hardwareunabhängige Steuerungsebenen: Trennung von Softwarefunktionen und physischer Hardware zur Förderung von Wiederverwendbarkeit, Modularität und Unabhängigkeit von Zulieferern.
- Cross-Domain-Integration: Verknüpfung bislang getrennter Systemwelten wie Infotainment, Fahrerassistenz (ADAS) und Cloud-Konnektivität für ein nahtloses Nutzererlebnis.
- Security & Safety by Design: Berücksichtigung von Sicherheits- und Schutzanforderungen bereits in frühen Entwicklungsphasen, um Cyberrisiken und funktionale Ausfälle systematisch zu minimieren.
- Ökosystemorientierung: Strategische Zusammenarbeit mit Technologiepartnern, Start-ups und Plattformanbietern zur gemeinsamen Entwicklung neuer Lösungen und zur Beschleunigung der Markteinführung.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Software die Zukunft der Fahrzeuge neu definiert und Unternehmen sich konsequent mit neuen Geschäftsmodellen und digitalen Erlösquellen auseinandersetzen müssen. Tesla hat die Blaupause geliefert, chinesische Hersteller wie BYD skalieren sie aggressiv. Während viele europäische OEMs noch in Pilotprojekten denken, hat BYD VW in China überholt und verkauft inzwischen mehr E-Autos in Europa als Tesla.
Die Botschaft ist klar: Wer an einem Hardware-zentrierten Denken festhält, verliert. Was heute zählt, sind Softwarekompetenz, Kundenzentrierung und Geschwindigkeit.
Der Übergang zum Software Defined Vehicle ist kein IT-Projekt – es ist ein strategischer Meilenstein für die gesamte Organisation. Um diesen erfolgreich zu meistern, braucht es starke Partner mit echtem Automotive-Verständnis. Entscheidend ist nicht nur technologische Exzellenz in Softwareentwicklung, Cloud und DevOps, sondern auch die Fähigkeit, internationale Standards zu adaptieren und offene, modulare Architekturen umzusetzen. Genauso wichtig: Unsere eigenen Teams müssen auf diesem Weg mitgenommen und weiterqualifiziert werden. Denn das SDV ist nicht nur eine Frage der Technologie – es ist eine Frage von Führung, Kultur und Zukunftsfähigkeit.
Bild: AdobeStock – Generiert mit KI von DJSPIDA FOTO
Text: Nagarro (v.i.S.d.P.)
