OEM&Lieferant 2/2025

13 die Komponentenfertigung eines Getriebes. Der Mitarbeiter bekommt dabei die beiden Hälften des Getriebes auf einem Drehteller vorgelegt (Abbildung 1 und 2). Seine Aufgabe ist, dort verschiedene Bauteile einzulegen, bevor der Drehteller die korrekt bestückten Getriebehälften zur Übergabe an einen Roboter fährt. In die eine Getriebehälfte muss der Mitarbeiter eine Einstellscheibe und eine Flächendichtung einlegen, in der anderen Hälfte 18 Bohrungen mit je einer Schraube bestücken. Zwei weitere Bohrungen, die in derselben Ebene liegen und sich optisch kaum von den 18 anderen unterscheiden, müssen unbedingt unbestückt bleiben, da hier der Roboterarm im nächsten Prozessschritt die Getriebehälfte greift. Mögliche Fehler sind also, Einstellscheibe, Flächendichtung oder Schauben nicht einzulegen bzw. Schrauben fälschlicherweise in eine der nicht dafür vorgesehenen Bohrungen einzulegen. Solche Fehler verursachen hohe Folgekosten und Maschinenstillstände. Ziel für das Prüfsystem des Fraunhofer IOSB war es, solche Fehler zu erkennen. Es kommt zum Einsatz, nachdem der Mitarbeiter die Bauteile eingelegt und über die SPS das Kommando für den nächsten Prozessschritt (Übergabe an Roboter) gegeben hat. Das automatische Verfahren prüft vor der Übergabe anhand von Senkrechtbildern der Getriebehälften, ob die Bauteile korrekt platziert wurden (Prüfergebnis „i.O.“ für „in Ordnung“). Ist das nicht der Fall (Prüfergebnis „N.i.O.“ für „Nicht in Ordnung“), werden die Prüfergebnisse per SPS an das Anlagensystem weitergeleitet und es werden dem Mitarbeiter die Anomalien angezeigt, so dass er die Fehler beheben kann. Bei der Kameraanordnung und Datenverarbeitung wurden die strengen Regelungen von Porsche zum Schutz personenbezogener Daten durch das Fraunhofer-System vollständig eingehalten. Das zugrundeliegende Verfahren zur Anomaliedetektion  basiert auf einem Modell für Maschinelles Lernen, dem sogenannten Patchcore-Modell. Dieses Modell führt eine Ein-Klassen-Klassifikation durch („1-class classifier“), es lernt nur die Klasse „Keine Anomalie vorhanden“. Dafür präsentiert man dem Verfahren in der Trainingsphase ausschließlich Positiv-Beispiele der Prüfsituation – im vorliegenden Fall also nur Bilder der beiden Getriebeteile mit jeweils korrekter Bestückung. Das Verfahren lernt also nur, wie der Soll-Zustand aussieht. Der große Vorteil hiervon ist, dass man oft einfach Positiv-Beispiele aus dem Regelbetrieb zur Verfügung hat, da die Mitarbeiter normalerweise korrekt arbeiten. Anomalien-Beispiele kommen selten vor und wären daher deutlich teurer zu beschaffen. Im Einsatz produziert das eingelernte Patchcore-Modell dann für jedes vorgelegte Bild einen Anomalie-Score sowie eine Heatmap, die alle Bereiche markiert, in denen eine Anomalie detektiert wurde. Wie bei allen Klassifikationsentscheidungen kann es vorkommen, dass diese falsch ausfallen. Das passiert oft dann, wenn die vorliegende Situation nahe an der Entscheidungsgrenze liegt. Um beispielsweise bei der Ausbildung von Mitarbeitern in der Qualitätskontrolle eine Entscheidungsgrenze zu kommunizieren, nutzen Unternehmen sogenannte Grenzmuster: Die Mitarbeiter bekommen Objekte oder Bilder davon, die gerade noch als intakt zu bewerten sind und solche, die schon als nicht intakt zu bewerten sind. In Grenzfällen ist der Mitarbeiter gefordert, sich für eine der Bewertungsklassen zu entscheiden. Die automatische Entscheidung des Prüfverfahrens nutzt ebenfalls eine Entscheidungsgrenze, die je nach Anwendungsfall individuell angepasst wird. Wie beim Menschen kann es vorkommen, dass das automatische Verfahren falsch negativ keine Anomalie detektiert, die doch eine ist („Pseudo i.O.“), bzw. falsch positiv eine Anomalie detektiert, die keine ist („Pseudo N.i.O.“). Beide sind zu vermeiden. Denn ein „Pseudo i.O.“ zieht ein fehlerhaftes Getriebe mit Folgekosten im Prozess und Maschinenstillstand nach sich. Und ein „Pseudo N.i.O.“ bedeutet Zeitverzögerung für den Mitarbeiter, der unnötigerweise eine korrekte Bestückung nochmals überprüfen muss. Um die Einsetzbarkeit und den Nutzen des Verfahrens aufzuzeigen, hat das Fraunhofer IOSB bei Porsche einen Aufbau an der Fertigungslinie realisiert. Über jeder Getriebehälfte hängt je eine Kamera. Wenn der Mitarbeiter nach vollendeter Bestückung den Taster für die Übergabe an den Roboter drückt, machen beide Kameras je eine Aufnahme, die dann vom Prüfsystem analysiert wird. Ist das Klassifikationsergebnis „i.O.“ (keine Anomalie), erfolgt die Übergabe. Ist das Klassifikationsergebnis „N.i.O.“ (Anomalie), bekommt der Mitarbeiter den Hinweis nachzubessern. Um das Potenzial des Verfahrens aufzuzeigen, lief es zwei Wochen lang im Hintergrund während der Arbeitsschichten. Für die Mitarbeiter an der Fertigungslinie änderte sich nichts am Status Quo, da die Hinweis-Funktion unseres Systems für das Klassifikationsergebnis „N.i.O.“ nicht aktiv geschaltet war. Für eine attestierte Brauchbarkeit war seitens der Porsche AG vorgegeben, dass die Pseudo-N.i.O.-Rate bei maximal einem Prozent liegen müsse. Denn eine höhere Rate würde die Tätigkeit der Mitarbeiter zu sehr verzögern und das Vertrauen und infolge auch die Akzeptanz in das automatische Verfahren unterminieren. Die Analyse der etwa 1.000 aufgezeichneten Bilder jeder Getriebehälfte ergab folgendes Ergebnis. Der Fall eines „Pseudo i.O.“ (eine nicht entdeckte Anomalie) kam gar nicht vor. Es wurden zwei N.i.O.-Fälle entdeckt, in denen einmal eine Schraube nicht bestückt und einmal eine Schraube in eine unerlaubte Bohrung bestückt wurde. Die Pseudo-N.i.O.-Rate betrug für die Bestückung mit Schrauben und für das Einlegen der Einstellscheibe 0,2 Prozent. Damit wurde die Vorgabe von maximal einem Prozent Pseudo-N.i.O.-Rate deutlich übertroffen und die Brauchbarkeit des Prüfsystems nachgewiesen. Fraunhofer IOSB www.iosb.fraunhofer.de  Abteilung Human-AI Interaction https://t1p.de/rosoe  Gesamtansicht der Fertigungsstation mit Getriebehälften und Kameras an der Deckenkonstruktion.

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